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Dehnungshaltung – ja, nein, vielleicht?

 

Die Diskussionen rund um die Dehnungshaltung reißen nicht ab. Es scheinen sich die verschiedenen Lager eher immer weiter zu verhärten und in teils merkwürdige Extremrichtungen abzudriften. Ich beobachte diese Entwicklung schon länger und habe mich in letzter Zeit noch einmal intensiver mit den jeweiligen Argumenten beschäftigt. Ich frage mich dabei allerdings immer, warum das alles so kompliziert gemacht wird? Da werden fleißig die alten Reitmeister zitiert und (angepasst an die jeweilige Meinung) interpretiert oder ganze Anatomie-Kurse abgehalten, die dann allerdings ebenfalls mal so und mal so ausgelegt werden (funktionieren die „Stoßdämpfer“ in Dehnungshaltung nicht oder schaltet die Aufrichtung sie nun eher aus?).
Beide Seiten haben ihre Argumente. Also was nun?
Ich verlasse mich da am liebsten auf mein Bauchgefühl und logischen Menschenverstand. Ich bestehe schließlich selbst aus Knochen, Muskeln, Sehnen, Bändern etc. und erlaube mir deshalb die ein oder andere Parallele zu ziehen ohne Tiermedizin studiert zu haben. Was das für Parallelen sind werdet ihr im Verlauf des Artikels noch sehen.

 

Ich verstehe jedenfalls nicht, weshalb man sich für eine Seite entscheiden muss. Wie können sich Experten so weit aus dem Fenster lehnen und etwas uneingeschränkt befürworten oder eben pauschal ablehnen und den Leuten so suggerieren, dass es nur schwarz oder weiß gibt und man sich für eine Seite entscheiden müsste?
Es kommt doch auf so viele verschiedene Dinge an. Zum Beispiel auf die Frage ob ich ein rohes, noch völlig unverdorbenes Pferd oder ein Korrekturpferd habe, das bereits falsche Muster verinnerlicht hat? Habe ich eher eine lethargische Schlaftablette, die die Füße nicht einen Millimeter mehr bewegt als nötig, oder vielleicht doch ein angespanntes Model, das am liebsten nur rennen würde? Habe ich das überbaute Quarter Horse, das seinen tief angesetzten Hals am liebsten gar nicht heben und lieber mit der Nase im Sand laufen würde oder habe ich den Friesen, der mit seinem hoch angesetzten Hals eher mal über dem Zügel laufen wird?
Bei all diesen Unterschieden kann sich doch niemand hinstellen und ernsthaft sagen, dass für alle der selbe Weg bzw. die selbe Körperhaltung richtig ist.
Natürlich reiten wir alle Pferde und es gibt allgemein gültige Regeln, aber trotzdem ist doch nicht alles vergleichbar. Wir sind auch alle Menschen und doch kann der eine in einer Sportart brillieren und der andere eben nicht. Auch muss ich den einen trotz der selben Sportart andere Übungen machen lassen als den anderen, weil es halt unterschiedliche Problemstellen im Körper gibt.

 

Was immer schlecht ist, ist einseitiges Training, da ist man sich zumindest bei uns Menschen doch schon lange einig. Deshalb machen menschliche Profi-Sportler eben auch Ausgleichssport, haben Erholungsphasen etc. Das gilt auch fürs Pferd - oder sollte es zumindest.
Für mich bedeutet es zudem, dass kein Pferd nur in Versammlung oder nur in Dehnungshaltung geritten werden sollte. Beides würde Strukturen ermüden und könnte je nach Intensität zur Überbelastung verschiedener Bereiche führen.
Stellt euch hierzu doch einfach mal vor ihr müsstet sehr lange in einer anstrengenden Haltung ausharren wie z.B. beim Planken. Sowas wie das Planken ist für mich mit Versammlung inkl. entsprechender Aufrichtung vergleichbar. Hier müssen Muskeln vor allem halten/tragen. Und? Wie lang könnt ihr das aushalten? Ab wann fangen die Muskeln an zu brennen und es geht nichts mehr? Eurem Pferd geht es auch so.
Die Zeit sich und den Reiter entsprechend tragen zu können verlängert sich im Training erst nach und nach und es ist auch nach viel Training nicht möglich das unendlich lange durchzuhalten. Man braucht bei der versammelnden Arbeit deshalb kurze Einheiten mit vielen Pausen.
Und wie steht es bei euch nach so einer Kraftübung? Würdet ihr euch danach nicht auch gerne strecken und lockern wollen? Und hier kommt dann für mich die Dehnungshaltung ins Spiel, die ein Pferd übrigens auch nicht unendlich lange ausführen kann, wenn es sie richtig macht. Die beiden Sachen gehören demnach für mich zusammen. Man muss zwischen beidem wechseln um nicht zu einseitig zu trainieren und alle wichtigen Strukturen gleichmäßig zu fördern.

 

Wichtig zu sagen ist, dass ich hier immer von der richtigen Dehnungshaltung ausgehe, also nicht von einem einfach nur tieflaufendem Pferd, sondern wirklich von einem Pferd in Dehnung/Streckung nach vorne, mit immer noch „angehobenem“ Vorhandbereich. Die Dehnungshaltung sollte insoweit nicht mit einer Pausenposition verwechselt werden, denn das Pferd braucht hier immer noch Kraft und Körperspannung. Will ich das Pferd hingegen komplett Pause machen lassen und ihm somit ohne entsprechende Körperspannung eine komplette Streckung nach unten erlauben, sollte ich dafür besser anhalten, denn es ist doch nur logisch, dass sich ein Pferd dabei tatsächlich zu stark auf die Vorhand bringt. Das ist zum Grasen zwar eine optimale Position, aber da sitzt ja dann auch keiner oben drauf und es wird sich wenn überhaupt nur gemächlich vorwärts bewegt.
Bei der Aufrichtung gehe ich hingegen von einem Pferd aus, welches in seinem anatomisch vorgegebenem Rahmen korrekt aufgerichtet ist. Ich gehe hingegen nicht von Pferden mit falschem Knick in Rollkurposition oder anderen Fehlern aus. Denn das ist ein weiteres Problem welches die Diskussion immer wieder unnötig anfacht: statt die eigene Position ordentlich zu erklären, wird sich in der Diskussion oft darauf beschränkt die Gegenseite schlecht zu machen, weil das viel einfacher ist. Wenn man dann die falsche Dehnungshaltung zum Vergleich heranzieht (also ein auf der Vorhand über Tempo dahinrennendes Pferd, das sich einfach nur nach unten durchfallen lässt) oder eine fehlerhafte Versammlung (ein absolut aufgerichteter und zusammengezogener Schenkelgänger), kann das ja nur dazu führen, dass man jeweils dagegen ist.

 

Also fassen wir bis hier erst einmal zusammen:
Man braucht beides, eine gute Dehnungshaltung genau so wie eine gute Versammlung, um das Pferd beim Reiten gesund zu erhalten. Die Mischung macht es. Und wie diese Mischung genau aussehen sollte, hängt davon ab, welche Voraussetzungen das jeweilige Pferd mitbringt und wo überhaupt unser jeweiliges Ziel ist.

 

Aber wie ist das nun genau, kommt man nicht nur über viel Vorwärts mit möglichst weit unter den Schwerpunkt tretenden Hinterbeinen zur Versammlung oder ist das vielleicht eher ein Umweg?
Philippe Karl hat die Diskussion um die Fokussierung aufs Untertreten, welches von den Befürwortern der Dehnungshaltung immer als sehr wichtiger Grund für diese Position genannt wird, bereits vor einiger Zeit geführt und er hat durchaus Recht, wenn er darauf hinweist, dass ein versammeltes Pferd ja eben nicht größere, sondern kürzere Tritte macht und da fragt man sich doch, woher dieser starke Fokus auf die weit untergreifenden Hinterbeine dann kommt.
Doch dann kommt die Gegenseite zu Wort, die sagt, dass nur so der Spannungsbogen erzeugt werden kann, der das Pferd ans Gebiss bringt. Und schon steht man wieder zwischen zwei Lagern.

 

Für mich hat das tiefe unter den Schwerpunkt Treten eher mit Abwechslung und Dehnung zu tun, sowie ein Fokussieren des Vorwärts meist einfach nur mit Spaß bzw. damit das Pferd wacher/aktiver zu machen. Bei manchen Pferden nutze ich es auch zum Lösen allerdings ist es meiner Erfahrung nach nicht so, dass ich ein Pferd über Tempo im Vorwärts lösen kann. Auch hier kommt es aufs jeweilige Pferd an ob ich ein Lösen über Trab, Galopp und Tempowechsel auf Geraden und großen Bögen bevorzuge oder z.B. ein Lösen über Übertreten, Schenkelweichen und Schulterherein in sehr ruhigem Tempo. Das kann dann auch je nach Entwicklung oder Tagesform des jeweiligen Pferdes wechseln.
Mein Quarter Horse hatte beispielsweise eine Phase, da brauchte er erst mal ein wenig Galopp bevor man ihn ordentlich Traben und intensiver arbeiten konnte. Nur beim Galopp schnaubte er schnell ab und ließ sich los. Dann kam eine Phase, da wäre frühzeitiges Angaloppieren eine schlechte Idee gewesen, da es eher zu erhöhter Anspannung geführt hätte. Hier ließen ihn Seitengänge, gezählter Schritt und Wendungen besser zu Losgelassenheit kommen. Ihn einfach nur Runde um Runde vorwärts zu schicken machte allerdings nie Sinn, denn das führt nur zur Ermüdung. 

Woody setzt z.B. die Hinterbeine noch gerne schräg, da er hier keine optimale Stellung hat. Das hängt unter anderem mit zu viel Mobilität im Lendenbereich und falschen Rotationen zusammen. Fokussiere ich mich unter diesen Voraussetzungen auf Vorwärts und weites Untertreten werden wir es wohl sehr früh mit Spat und ähnlichen Problemen zu tun bekommen. Mein Fokus liegt deshalb zur Zeit mehr auf dem planen Auffußen der Hinterbeine und möglichst gleichmäßiger Belastung der Gelenke durch ein möglichst gerades Positionieren dieser Gelenke übereinander. Das ist aber der Plan beim sehr mobilen Quarter. Ein steifes und unbewegliches Pferd, das dafür aber ziemlich gerade auf den Beinen steht, wäre wieder etwas ganz anderes (wobei es diese Pferde ja leider kaum noch gibt). 

 

Dass man das ganze heut zu Tage in den Reitbahnen fokussierte und praktizierte Vorwärts unbedingt bräuchte um zur Versammlung zu kommen, stimmt meiner Meinung nach also nicht. Das zeigen auch Beispiele wie Sonja Weber, Konstanze Kopta, die Familie Krischke und viele andere ziemlich gut und es ist eigentlich auch logisch, wenn wir wieder die Parallele zu uns Menschen ziehen:
Habt ihr schon mal davon gehört, dass ein Tänzer erst viele Runden vorwärts rennt um sich aufzuwärmen und vorzubereiten? Nein, das Aufwärmen erfolgt hier durch gezielte Übungen und nicht durch ermüdendes Rennen.
Will ich mein Pferd zur Versammlung bringen, geht das also über die richtigen Übungen und darüber ihm die entsprechende Haltung zu vermitteln.
Ihr könnt eure Pferde hingegen ewig im Kreis vorwärts rennen lassen und es wird sich doch nicht viel mehr als Kondition aufbauen.

 

Ziehen wir insoweit auch nochmal einen letzten Vergleich zu uns Menschen heran:
Schnallt man jemandem einen schweren Rucksack auf den Rücken, ohne dass dieser sich schon mal mit dem richtigen Tragen beschäftigt hat, wird er anfangen in einer möglichst bequemen, kraftsparenden Schonhaltung zu laufen. Auf Dauer ist diese jedoch gesundheitsschädlich. Würde man mit dem Rucksack dann auch noch schneller laufen müssen, dürfte es eher schlechter als besser werden.
Helfen wird es demjenigen nur, wenn er so gut wie möglich seine Körperspannung hält und sich dabei möglichst gerade und balanciert bewegt. Dann kann er die Last am besten und gesündesten tragen. Das wird er aber erstmal nicht sehr lange schaffen. 
Helft eurem Pferd also schnell in Balance zu kommen und die Körperspannung während der Arbeit zu halten, wenn es lange gesund bleiben soll. Ob ihr das nun mit mehr oder weniger Nutzung der Dehnungshaltung machen solltet, ist eine Frage, die nur ihr selbst beantworten könnt. Bedenkt aber, dass auch zur Dehnungshaltung wie bereits erwähnt Balance und Körperspannung gehören, wenn man es richtig macht.

 

Ihr seht also, es gibt keine klare Antwort, sondern lediglich ein klares „Es kommt drauf an“! Ich möchte euch mit diesem Artikel dazu bringen nicht stur einem System zu folgen, sondern zu fühlen und zu beobachten, wo die Probleme eures Pferdes liegen und eure Ausbildung somit ans jeweilige Pferd anzupassen. Hört auf euer Bauchgefühl und nutzt euren logischen Verstand. Macht euch immer ein eigenes Bild und eure eigenen Gedanken, wenn ihr euch mit verschiedenen Theorien beschäftigt.
Überlegt auch immer von wem diese Theorien kommen und mit was für Pferden es derjenige hauptsächlich zu tun hatte, denn allein das kann schon mal erklären warum die Meinungen so unterschiedlich sind. Die alten Reitmeister haben beispielsweise wertvolles Wissen gehabt und auch ich beschäftige mich gerne mit ihnen, allerdings ist doch wohl klar, dass keiner von ihnen ein modernes Reining-Quarter Horse auszubilden hatte. Sowas muss man im Hinterkopf behalten.
Ihr seht also, es ist alles eine Frage des Blickwinkels und pauschales Schwarz-Weiß-Denken ist wie immer unangebracht.
Ihr kommt bei der Ausbildung eines Pferdes nicht drum herum, dieses Pferd stets genau zu analysieren, statt es einfach in eure Lieblings-Schablone zu pressen.